Seien wir ernst: Seit vielen Jahrzehnten ist das EU-Budget für den Kulturbereich – 0,000135% des EU-BIP – ein Witz. Wahrscheinlich (wir werden nie die Summe haben, da die Zahlen, wie immer, geheim sind) hat der hybride Krieg, dem die europäischen Bürger ausgesetzt sind (von Russland, anderen "Staatlichen Akteuren", aber auch von einem globalen religiös-konservativen Netzwerk), Beträge mobilisiert, die dieses Budget mit Leichtigkeit übersteigen.
Der Europäische Kulturkompass (Culture Compass) als strategische Richtung und AgoraEU als Finanzierungsprogramm für die neue Richtung sollen bis jetzt einige der Mängel ausgleichen. Die fast vierfache Erhöhung des Budgets ist ein (kleiner) Schritt in die richtige Richtung. Aus Bequemlichkeit hat die EU bis jetzt ein entscheidendes Engagement im Kulturbereich vermieden. Mit den neuen Programmen beginnt die Kommission, eine aktive Rolle zu übernehmen. Endlich wird die Kultur aus der marginalen Aufmerksamkeit der Europäer herausgeholt und beginnt, in das Zentrum der Anliegen zu migrieren, wo sie hingehört.
Am Anfang war der Gemeinsame Markt. Aber der Anfang ist nicht zu Ende Die Europäische Union wurde auf wirtschaftlichen Grundlagen aufgebaut. In den 1950er Jahren wählten die von Krieg erschöpften europäischen Länder die Handelskooperation anstelle des bewaffneten Konflikts. Der Gemeinsame Markt wurde zur pragmatischen Lösung: Die wirtschaftliche Interdependenz machte den Krieg nicht nur unerwünscht, sondern auch unpraktisch. Diese Logik hat funktioniert und funktioniert weiterhin bemerkenswert gut.
Im Laufe der Zeit wurden alle anderen strategischen Projekte auf dieser Grundlage aufgebaut. Der Green Deal kam als natürliche Erweiterung dieses wirtschaftlichen Ansatzes. Erweitert durch NextGenerationEU wurde das Programm zu einem wirklich bedeutenden, das seine wirtschaftliche Zentralität bewahrt. Die Umweltverschlechterung, obwohl sie tiefgreifende soziale, philosophische und kulturelle Auswirkungen hat, bleibt im Wesentlichen ein Problem, das durch Produktions- und Konsummodelle verursacht wird. Die europäische Antwort war konsequent: Wenn die Wirtschaft das Problem schafft, muss die wirtschaftliche Regulierung es lösen. Die Budgets für das Klima spiegeln diese Priorität wider – der Klimafonds, die Instrumente des Green Deals und die Erweiterung für die post-Covid-Resilienz summieren sich auf fast eine Billion Euro.
Erasmus, das Programm für akademische Mobilität, war ebenfalls ein Gesicht des gemeinsamen Marktes. Die Priorität: die Ausbildung der Arbeitskräfte. Ein völlig marginaler Fokus: die Förderung der Staatsbürgerschaft und der zivilen Werte. Die Kohäsionspolitik, die Programme für die Landwirtschaft, der Sozialfonds – alle mit einem unbestreitbar positiven Einfluss – behalten denselben Fokus auf den primären Bedürfnissen.
Die Stufen der Pyramide: Wohlstand ohne Identität? Es gibt jedoch eine tiefere Logik in dieser Entwicklung. Wenn wir durch das theoretische Modell der Maslowschen Bedürfnispyramide schauen, sieht es nicht gut aus. Die EU hat von unten begonnen: wirtschaftliche Sicherheit, Stabilität, materielles Wohlstand. Diese Grundlagen waren notwendig und dringend. Aber sobald ein gewisses Maß an wirtschaftlicher Sicherheit erreicht ist, verschiebt sich das Interesse unvermeidlich zu höheren Werten: Identität, Sinn, Kreativität, Selbstverwirklichung.
Hier entsteht das Problem: Indem sie sich fast ausschließlich den unteren Stufen der Pyramide – Wirtschaft, Umwelt, Infrastruktur – widmet, hat die EU die Kultur außer Kontrolle geraten lassen. Und die Kultur ist es, die die menschlichen Gemeinschaften definiert. Schließlich haben das alte Ägypten und Mesopotamien Bewässerungskanäle gebaut und sich so das Überleben oder sogar den Wohlstand gesichert. Aber nicht wegen der Kanäle sind sie in die Geschichte eingegangen. Sie sind wegen der Kunst und Kultur, die sie hervorgebracht haben und die weiterhin zur menschlichen Entwicklung beitragen. Prähistorische Gesellschaften sind noch bekannt als "materielle Kulturen" – denn das ist die einzige Spur, die noch über ihre Identität spricht. Durch die Kultur, die sie hervorgebracht haben, haben sie zu den späteren Phasen der menschlichen Entwicklung beigetragen.
Über das Überleben hinaus wird der allgemeine menschliche Wert jeder Gesellschaft durch die Fähigkeit bestimmt, Kultur, Kunstformen und Innovationen zu erzeugen, die zur Fortdauer und Entwicklung der Menschheit beitragen. In der zeitgenössischen globalen Konkurrenz können Gesellschaften nur dann wirklich prosperieren, wenn sie in der Lage sind, künstlerische und technologische Kreativität zu erzeugen. Ohne diese Dimension wird der materielle Wohlstand fragil, richtungslos und verletzlich.
Kultur: ein unbequemes Problem für das "U" in der EU Die Kultur wurde jedoch von den europäischen Institutionen mit Vorsicht behandelt. Der Grund ist komplex, aber nicht schwer zu verstehen: Das europäische Kulturerbe, obwohl riesig und reich, trägt auch die Narben der Geschichte in sich. Die grundlegenden Werke vieler Nationen feiern den Widerstand gegen andere Völker, die heute Partner in der Union sind. Diese divergente Dimension der klassischen Kultur birgt das Risiko, Spannungen zu erzeugen, eher als die Einheit zu stärken.
Die Antwort der Europäischen Kommission war eine vorsichtige Neutralität. Die Kultur erhielt Unterstützung, aber in marginalen und relativ äußeren Formen: die Mobilität von Künstlern, internationale Co-Produktionen, Übersetzungen und die Zirkulation zeitgenössischer Werke. Kreatives Europa, das Hauptkulturprogramm, hatte ein Budget von etwa 2,44 Milliarden Euro für den Zeitraum 2021-2027 – ein signifikanter Kontrast zu den etwa 95,5 Milliarden für Horizon Europe (Forschung) oder etwa 26,2 Milliarden für Erasmus+ (Bildung). Ganz zu schweigen von den rein wirtschaftlichen Programmen. Diese Vorsicht hat jedoch den europäischen öffentlichen Kulturraum verwundbar gelassen. In den letzten Jahren haben die Investitionen in externe Propaganda – sowohl die russische als auch die von globalen religiös-konservativen Organisationen – wahrscheinlich das gesamte Budget von Kreatives Europa überstiegen. Kulturelle Narrative wurden von Akteuren geformt, die nicht die europäische Kohäsion im Blick hatten. Im Gegenteil.
In Ermangelung einer eigenen, klaren und durchsetzungsfähigen kulturellen Vision hat die EU die Fragmentierung des öffentlichen Diskurses und die Erosion des demokratischen Konsenses in vielen Mitgliedstaaten beobachtet.Bildung: wirtschaftliche Ausbildung oder bürgerschaftliche Ausbildung? Ähnlich wurden Bildung und Forschung – Bereiche, in denen die EU hinter den USA und China zurückgeblieben ist – überwiegend durch die wirtschaftliche Brille betrachtet. Die Mobilitätsprogramme, obwohl wertvoll, sind hauptsächlich auf die Ausbildung qualifizierter Arbeitskräfte ausgerichtet und weniger auf den Aufbau einer gemeinsamen Mentalität und eines gemeinsamen Wissens auf europäischer Ebene. Das ist an sich kein Mangel, sondern eine ungenutzte Gelegenheit zur Stärkung einer europäischen Identität, die über die divergierenden nationalen Narrative hinausgeht.
Kultureller Kompass und AgoraEU: auf der Suche nach dem Kompass Die Metapher des Europäischen Kompasses (Cultural Compass) ist nicht zufällig. Sie kommt zu einem Zeitpunkt, an dem Europa zunehmend orientierungslos erscheint: der Anstieg des Extremismus, die Erosion des Vertrauens in Institutionen, die soziale Polarisierung, die Verwundbarkeit gegenüber Desinformation. In diesem Kontext stellen der Kulturelle Kompass und AgoraEU ein Signal für einen Paradigmenwechsel in der Art und Weise dar, wie die Europäische Union die Rolle der Kultur denkt.
Der Kulturelle Kompass, der 2025 gestartet wird, ist kein Finanzierungsprogramm, sondern ein strategisches Dokument, das die europäischen Kulturpolitiken leiten und die Kultur im zukünftigen Mehrjährigen Finanzrahmen 2028-2034 verankern wird. Es ist das erste Zeichen, dass Brüssel die Kultur nicht als ein Hilfsfeld behandelt, sondern als eine strategische Komponente – einen Kompass für die Richtung, in die Europa gehen möchte.
Im Gegensatz dazu bringt AgoraEU (2028-2030) die konkreten Ressourcen mit: ein Gesamtbudget von 8,6 Milliarden Euro für drei Jahre – fast doppelt so viel wie das derzeitige Tempo. Das Programm integriert Kultur, Medien und Zivilgesellschaft: Kreatives Europa – Kulturstrang: 1,8 Milliarden € MEDIA+ Strang: 3,2 Milliarden € Demokratie, Bürger, Gleichheit, Rechte und Werte: 3,6 Milliarden € Die Zahlen verdienen Kontextualisierung. Im Vergleich zu den prioritären Bereichen der EU bleibt die Investition bescheiden:
Die Kultur erhält mehr als zuvor, aber immer noch erheblich weniger als Forschung, Bildung oder Umwelt. Wir lassen erneut die rein wirtschaftlichen Programme beiseite. Und die tatsächliche Umsetzung des Kompasses beginnt erst 2028 – eine Verzögerung, die im Kontext der aktuellen sozialen und kulturellen Spannungen fast anachronistisch erscheint.
Was bedeutet dieser Wandel? Mit all seinen Einschränkungen deutet der Kulturelle Kompass + AgoraEU darauf hin, dass die EU beginnt zu verstehen, dass die europäische Zukunft nicht nur auf wirtschaftlichen Regulierungen und Umweltschutz aufgebaut werden kann. Harmonie mit dem Planeten erfordert in erster Linie soziale Harmonie – und das ist ein kulturelles, kein kommerzielles oder zolltechnisches Konstrukt.
Die Programme versuchen, das zu tun, was die EU lange vermieden hat: den partizipativen Aufbau gemeinsamer europäischer Werte, die Stärkung einer komplexen Identität, die die nationalen Kulturen umfasst und aktiv über die historischen Divergenzen hinweg vermittelt. Es geht nicht darum, nationale Identitäten zu tilgen, sondern um die Hinzufügung einer gemeinsamen Dimension, die sie bereichert und einen gemeinsamen Referenzrahmen bietet.
Ein Problem der kulturellen Überlebensfähigkeit Der zeitgenössische globale Konflikt ist nicht mehr nur militärisch oder wirtschaftlich – er ist auch kulturell, informativ. Die Kontrolle über Narrative beeinflusst Gesellschaften ebenso sehr wie wirtschaftliche Regulierungen. Ein wirtschaftlich starkes Europa, aber ohne kulturelle Kohäsion, ohne die Fähigkeit, eigene Narrative zu erzeugen und zu verbreiten, bleibt verwundbar und letztlich irrelevant im globalen Wettbewerb.
Kultur ist kein Ornament, sondern die Substanz, die es einer politischen Gemeinschaft ermöglicht, langfristig zu funktionieren und einen Beitrag zur menschlichen Entwicklung über ihre eigenen Grenzen hinaus zu leisten. Europa hat eines der reichsten kulturellen Erben der Welt. Diese von einem oft divergierenden Erbe zwischen Nationen in einen lebendigen Dialog zu transformieren, der eine gemeinsame Identität aufbaut, ohne die Unterschiede zu uniformieren, ist eine komplexe und dringende Herausforderung.
Der Kulturelle Kompass und AgoraEU lösen nicht alles. Der Aufwand bleibt viel zu gering im Vergleich zum Umfang der Herausforderung und kommt (etwa) zu spät. Aber es markiert eine grundlegende Anerkennung: Wenn die Europäische Union eine relevante und stabile politische Kraft im 21. Jahrhundert bleiben will, kann sie nicht nur ein Supermarkt mit strengen Regeln und gut gepflegten Bewässerungskanälen sein. Straßen und Eisenbahnen sind gut, aber nicht genug. Über alles hinaus muss es auch eine Gemeinschaft mit Werten, einer gemeinsamen Vision und der Fähigkeit zur kulturellen Kreativität sein. Schließlich ist genau das der Unterschied zwischen Zivilisationen, die in ideologisch stark gefärbten Geschichtsbüchern überleben, und denen, die tatsächlich Geschichte schreiben.